Der Realitätsverlust angesichts der Brüsseler jihadistischen Anschläge, dargestellt am Beispiel von Constantin Seibt, Dunja Hayali & Co.
Der Schweizer Journalist Constantin Seibt publiziert am 25. März 2016 angesichts der islamistischen Massaker in Brüssel am Flughafen und der U-Bahn einen Text im schweizerischen Tagesanzeiger. Gleich zu Beginn schreibt er:
„So grausam jeder dieser Morde ist, es gibt Gefährlicheres. Allein in Deutschland sterben pro Jahr über 500 Leute an einer Fischgräte.“
Fischgräten seien gefährlicher als der Jihad. Das führt den preisgekrönten Schweizer Denker zu folgender Konsequenz:
„Die Verteidiger des Abendlands sind heikler als die Terroristen: Diese haben zwar Bomben. Doch die wirklichen Zerstörungen können wir nur selber anrichten. Etwa wenn man durch geschlossene Grenzen die Wirtschaft ruiniert. Oder durch einen Überwachungsstaat die Freiheit. (…) Was tun? Eigentlich nur eines: Die Polizei ihre Arbeit machen lassen. Und sonst Haltung bewahren: also die eigenen Prinzipien, kühles Blut, Freundlichkeit. Das genügt. Denn das eigentliche Ziel der Attentäter sind nicht Flughäfen oder Metrostationen, sondern die Köpfe. Ihr Ziel ist der Verlust an Haltung.“
Wenige Tage nach einem weiteren islamistisch motivierten Massaker mitten in Europa solche Zeilen zu schreiben, macht nachdenklich. Das Ziel der Attentäter sei nicht der Mord an einer möglichst großen Zahl von Menschen, sondern es seien „die Köpfe“. Der IS im Speziellen und der Jihad im Allgemeinen wollten, dass Europa nach rechts dreht, damit möglichst viele Muslime sich dem Jihad anschließen. Als ob es dazu rechter Tendenzen, die es in ganz Europa gibt, bräuchte. Viele Muslime werden aus islamistischer Überzeugung zum Jihadisten (oder auch „legalen“ Islamisten, die es ja in noch viel größerer Anzahl gibt, beiden gemein ist die Vorliebe für Religion und Scharia). Der Islamismus bietet eine autoritäre Antwort auf die Vielfältigkeit und Unübersichtlichkeit der Moderne. Er ist gegen die Gleichberechtigung der Geschlechter, verachtet Homosexuelle oder die Zinswirtschaft und natürlich die Meinungssfreiheit (Erdogan).
Zudem ist der Islamismus die Hauptströmung der Internationale des Antizionismus, der gefährlichsten Form des heutigen Antisemitismus, neben dem eher „kosmopolitischen Antizionismus“ des Westens und vieler Intellektueller.
Doch so zu schreiben wie Seibt, so eiskalt angesichts von dutzenden Ermordeten – ist das noch Zynismus angesichts von völlig zerfetzten Menschen, die auch ihre Köpfe verloren, so zu schreiben, oder noch krasser? Gibt es dafür ein Wort?
Denn was ist in den Köpfen derer, die noch einen haben, drin? Etwas alltagssprachlich formuliert: sind die Leute, die angesichts von Jihad und zerfetzten Menschen in Brüssel von gefährlicheren Fischgräten daher reden, noch ganz „knusprig“?
Fragen wir Sigmund Freud. Er schrieb 1924 in „Der Realitätsverlust bei Neurose und Psychose“:
„Ich habe kürzlich einen der unterscheidenden Züge zwischen Neurose und Psychose dahin bestimmt, daß bei ersterer das Ich in Abhängigkeit von der Realität ein Stück des Es (Trieblebens) unterdrückt, während sich dasselbe Ich bei der Psychose im Dienste des Es von einem Stück der Realität zurückzieht. Für die Neurose wäre also die Übermacht des Realeinflusses, für die Psychose die des Es maßgebend. Der Realitätsverlust wäre für die Psychose von vorneherein gegeben; für die Neurose, sollte man meinen, wäre er vermieden. Das stimmt nun aber gar nicht zur Erfahrung, die wir alle machen können, daß jede Neurose das Verhältnis des Kranken zur Realität irgendwie stört, daß sie ihm ein Mittel ist, sich von ihr zurückzuziehen, und in ihren schweren Ausbildungen direkt eine Flucht aus dem realen Leben bedeutet.“
Und weiter mit Freud:
„Die Neurose begnügt sich in der Regel damit, das betreffende Stück der Realität zu vermeiden und sich gegen das Zusammentreffen mit ihm zu schützen. Der scharfe Unterschied zwischen Neurose und Psychose wird aber dadurch abgeschwächt, daß es auch bei der Neurose an Versuchen nicht fehlt, die unerwünschte Realität durch eine wunschgerechtere zu ersetzen. Die Möglichkeit hiezu gibt die Existenz einer Phantasiewelt, eines Gebietes, das seinerzeit bei der Einsetzung des Realitätsprinzips von der realen Außenwelt abgesondert wurde, seither nach Art einer ‚Schonung‘ von den Anforderungen der Lebensnotwendigkeit freigehalten wird und das dem Ich nicht unzugänglich ist, aber ihm nur lose anhängt. Aus dieser Phantasiewelt entnimmt die Neurose das Material für ihre Wunschneubildungen und findet es dort gewöhnlich auf dem Wege der Regression in eine befriedigendere reale Vorzeit.“
Trifft das nicht ziemlich exakt auf das Jahr 2016 zu? Flüchtet nicht ein Constantin Seibt in eine „Phantasiewelt“ und regrediert er nicht in eine Zeit, in der z.B. Fischgräten womöglich gefährlicher waren als jihadistische Massaker, wenn sie je gefährlich waren – verglichen mit geistiger Regression, die vielleicht schon immer unsagbar gefährlicher war denn Fischgräten? Es ist auch eine Infantilisierung des Journalismus, sich auf Allgemeinplätze zurückziehen, auf Beispiele, die auch Kinder verstehen.
Ja, trifft Freuds Analyse des Realitätsverlust sowohl bei Psychose wie Neurose nicht weite Teile unserer europäischen wie westlichen Gesellschaften, unsere gesamte Situation seit dem 11. September 2001?
Jene, die nicht offen mit dem Jihad sympathisieren (angenommen das tun sie auch nicht klammheimlich zu Hause, beim Café auf Stehempfängen, auf islamwissenschaftlichen Konferenzen oder in der Kneipe um die Ecke), derealisieren die Gefahr oder/und verfallen in eine „Regression in eine befriedigendere reale Vorzeit“. Das wäre die Zeit bevor der Jihad anfing, gezielt wie wahllos westliche Gesellschaften zu terrorisieren und Tausende Menschen zu ermorden, angefangen mit den Anschlägen von 9/11 im World Trade Center in New York City, dem amerikanischen Verteidigungsministerium Pentagon und den vier entführten Flugzeugen. Wollen also solche Autoren, die angesichts der größten öffentlichen Gefahr, der sich Europa seit dem Ende des Nationalsozialismus im Mai 1945 gegenübersieht, von Fischgräten statt von Jihad reden, in ihre Kuschelzeit des Kalten Krieges der 1960er bis 1980er Jahre zurück? Oder in die „neutrale“ Alpenidylle der Schweiz mit Enzianblümchen, Naturjodlern und Züricher Schickeria? War nicht der unfassbare Hype um Volksmusik seit vielen Jahren gerade Ausdruck dieser Realitätsverweigerung, zudem natürlich eine Regression geistiger und musikalischer Natur, die uns wöchentlich en masse im Fernsehen vorgedudelt wird?
Eine Nicht-Thematisierung der islamistischen Gefahr ist ja gerade das Kennzeichen schlechthin westlicher Reaktionen auf 9/11. Eine fast völlig unpolitische Jugend, die im Selfie-Narzissmus weiter Teile der Gesellschaft gefangen ist, tut ein Übriges – und jene, die aktiv sind, Jung und Alt, sind fast alle wahlweise gegen Freihandelsabkommen oder/und hetzen gegen Israel, geben Judith Butler den Adorno-Preis (Axel Honneth etc.), gehen zur BDS-Bewegung, organisieren den al-Quds-Tag, unterhalten gute Beziehungen zu Iran (Bundesregierung) oder entfernen israelische Fahnen von Gedenkorten für Opfer des Jihad wie in Brüssel.
Seit jenem Dienstag sprechen doch alle nur darüber, dass „der“ Islam nicht zum Thema gemacht werden dürfe und der Islamismus keine spezifische Gefahr sei. Darüber, dass der Westen mit solchen Hochhäusern wie dem World Trade Center doch einen „Doppelphallus“ errichtet hätte, den zu „fällen“ gleichsam OK gewesen sei („ein Tritt in die Eier“, so Klaus Theweleit, „Männerforscher“), dass „Symbole von Stolz und Reichtum und von Arroganz“ sich in diesen Gebäuden Ausdruck verschafft hätten (so der damalige Leiter des Zentrums für Antisemitismusforschung (ZfA) an der TU Berlin, Wolfgang Benz) oder aber dass der damalige US-Präsident George W. Bush und der al-Qaida-Führer Osama bin Laden die „gleichen Denkstrukturen“ hätten (so der damalige ARD-Vordenker Ulrich Wickert). Die PDS (heute die Partei Die Linke) redete von „sowas kommt von sowas“, der Neonazi Horst Mahler jubelte ob der Anschläge am WTC von „Independence Day Live“. Kritiker des Jihad und Islamismus werden seither wahlweise als „Hassprediger“ (Thomas Steinfeld, Süddeutsche Zeitung) oder „Panikmacher“ (Patrick Bahners, FAZ) diffamiert und jede substantielle Analyse und Kritik des Islamismus und Jihad abgewehrt.
Seibt rennt also sperrangelweit offene Türen und Tore ein, wenn er meint, nun fast 15 Jahre nach 9/11 und Zehntausenden Toten durch suicide bomber und andere islamistische Attacken später, die Kritik am nach Europa kommenden Jihad abzuwehren.
Wie der FAZ-Blogger Don Alphonso am 29. März 2016 schreibt („Terrorverharmlosung mit der Fischgrätenlüge“), wurde Constantin Seibts Artikel umgehend vom politischen und journalistischen Establishment auf Twitter geteilt und promotet, von Felix Werdermann, Politikredakteur beim Freitag, Michael Karnitschnig, Büroleiter von EU-Kommissar Johannes Hahn, Catrin Bialek, Redakteurin beim Handelsblatt über Mike Beckers, Redakteur bei der Wissenschaftszeitschrift Spektrum hin zu Dunja Hayali vom ZDF-Morgenmagazin, Thomas Leidel von N-TV oder Maik Nöcker, Moderator bei SKY.
Angesichts von zerfetzten Menschen in Brüssel, die Opfer jihadistischer Gewalt wurden, von den vorgeblich viel gefährlicheren Fischgräten zu reden und das zu teilen, ist Ausdruck eines Realitätsverlusts, Ausdruck der womöglich von Psychosen und Neurosen erkrankten kulturellen Elite im Westen, Europas und der Schweiz. Da aber fast alle mitmachen bzw. am selben Leiden leiden, fällt das niemand (außer Kritikern wie Don Alphonso) auf. Es läuft für den Jihad.
Der Autor, Dr. phil. Clemens Heni, ist Politikwissenschaftler und Direktor des Berlin International Center for the Study of Antisemitism (BICSA)